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23. Apr. 2016

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4

Min. Lesezeit

Island – 23. April 2016 – Tag Vier

Flüsse schlängeln sich. Bäche rauschen. Wasserfälle stürzen. Schnee liegt auf den Bergen, er ist so, ein bewegungsloser. Der Wind pfeift. Gräser schaukeln in diesem Wind. Das Meer wütet in diesem Wind. Licht fällt. Möwen schweben. Die Sonne wirft ihre Strahlen hinab. Nichts davon beschreibt diese Landschaft, obwohl jeder Satz stimmt. Fertige Sätze aus der Landschaftsbeschreibungfabrik, die eine Beleidigung sind. Für diese Landschaft wie für mein literarisches Talent gleichermaßen. Versucht man es poetisch, kann man nur hinabstürzen (wie die Wasserfälle): Das Licht im Wasser (es wirft eine gerade Linie hinab, die sich wie so eine vermeintliche göttliche Botschaft durch das Wasser zieht) ist eine Aufforderung, die Wahrheit zu sagen. Ich sage es nicht laut, ich hätte mich ja selbst ausgelacht. Und dass ich das nicht besser ausdrücken kann, dass ich, wenn ich das Licht sehe – ich sehe es an diesem Tag immer wieder – jedes Mal denke: Jetzt. Nur eine einzige Wahrheit. Die Touristen sind eine Beleidigung für die Landschaft. Sie stören sie, das sage ich, als wäre ich nicht einer von ihnen. Die Deutschen erkennt man an der perfekten Ausrüstung, funktionelle Mützen, feste Bergschuhe, Fleece, Softshell, Gore-Tex, und wie das alles heißt, und sicherlich wetter-, regen- und windfest und auch noch atmungsaktiv. Die Amis tragen Sneaker und keine Socken, die Jacken lassen sie offen stehen, darunter ein dünnes Hemd, keine Mütze auf dem Kopf. Kalt, beim Anblick alleine. Männergruppen, mal so ein Wanderurlaub ohne Ehefrau, und Paare, die sich in der Zweisamkeit feiern: Sonst brauchen wir niemanden. Die Bösartigkeit kommt von dem Gefühl, gestört zu werden. Sie stören nicht mich, sondern die schwarzen Felsen hier. Irgendwo treffen zwei Kontinentalplatten aufeinander, aber ich weiß nicht genau, wo, und eigentlich ist das auch nicht von Bedeutung. Ein Japaner in einer knallroten Regenjacke lrennt mit Stativ und Videokamera an mir vorbei, als müsste er sich beeilen: Als würden diese Jahrtausende alten Felsen gleich wieder gehen, als würde er den Moment zum Filmen verpassen. Meine Jacke ist auch zu bunt. Abbiegen, am Fluss entlang. So tun, als wäre da keiner, bis da keiner mehr ist. Das Gelb des Grases ist ein anderes, ein weiches. Ich springe über einen Fluss. Ich würde wieder zurück springen, des Spaßes halber, aber ich bin ja kein Kind. Bin ich nicht? Die erste Tat des Tages: Auf einen zugefrorenen See hinausrennen, mitdenken, da sind ja menschliche Spuren im Schnee, da sind also andere schon raus gelaufen, trotzdem einbrechen. Die Kälte schmerzt nicht, weil sie narkotisiert. Bis zum Knie. Sich am Fluss ins Gras setzen, dann legen, dann setzen. Vorlesen. Ich sage nichts. Was ich geschrieben habe, ist, ich habe kein Ende für diesen Satz. Ich weiß nicht, was es ist. Und vielleicht möchte ich es lieber nicht wissen. Wie früher, und das Festhalten eines Moments. Von der Wahrheit, für jemanden zu schreiben. Pferde, ein isländisches Klischee. Sie haben weiches Fell und eine Sanftheit. Beim ersten Dampf, der aus der Erde steigt, ein Juchzen. Ich esse einen Rentier-Burger zum Mittag. Hat einen starken Eigengeschmack, aber anders als Hirsch. Ein zweifelhaftes Vergnügen. Aber: Ich esse, in einem isländischen Restaurant. Das Restaurant ist in einer Stadt, und als wir diese verlasen, zähle ich mit: Vierzehn Häuser. Ich beginne einen Satz mit „Der Wind“ und lösche den Anfang mehrere Male. Was schreibt man da, der Wind singt Lieder oder erzählt Geschichten? Weht um, vernichtet Gedanken, warnt vor dem Leben gleichermaßen wie vor dem Tod? Das hier kann man nicht schreiben, und man kann es nicht fotografieren. Wenn Gefühle vollständig sind, so sind sie es von jeder Seite. Vereinzelte Bauernhöfe und Häuser. Ein Dorf: Fünf Häuser und eine Kirche. Kein Supermarkt, keine Schule, aber eine Kirche, die Menschen sind ein verzweifeltes, instabiles Geschöpf. Die nach Grenzen schreien wie Kinder, ein Richtschnur, die sich als Fata Morgana erweisen kann. Ist ihnen egal. Wer in den Häusern wohnt, was sie da reden, Abend für Abend beim Essen, was da an Gedanken geschieht. Was da möglicherweise nicht geschieht, und ob die Verzweiflung, und lebt da auch die Liebe. Fragen werden nicht gestellt, das ist eine wohl überlegte Vorsichtsmaßnahme. Später beschließe ich zu dichten: Ein Bier vor dem Geysir. Das Bier kostet sieben Euro, aber in den sieben Euro ist ein schick designtes Etikett bereits enthalten. Es schmeckt bitter und gut. Ein Schild warnt, die Hände nicht in das heiße Wasser zu stecken, 80 Grad, das nächste Krankenhaus ist 62 Kilometer entfernt. Es zieht mich: Wirklich so heiß? Kein Juchzen. Geysir: Warten. Irgendwann spuckt er, und das hat dann eine berauschende, unbändige Kraft. Man wird süchtig: Nicht genug bekommen. Nicht genug bekommen, fragt der Geysir, herausfordernd und verspielt. Dann brodelt er wieder vor sich hin, das Wasser kocht, es spielt mit mir: Gleich, gleich, gleich. Und dann ebbt es wieder ab. Nee, ich hab doch keine Lust. Und ich warte, und er weiß, dass ich warte: Immerhin stehe ich hier vor einem Geysir, und das weiß er, so gut wie ich das auch weiß. Manchmal sprudelt er ein bisschen, eine einzige Enttäuschung. Deshalb stehe ich hier? Dann wieder groß: Oha. Ja, deshalb. Manchmal liebt mich der Geysir sehr. Irgendwann habe ich das Warten satt. Abends ist mir kalt, Schüttelfrost, das ist die Kälte des Tages. Sie hat sich zurück gehalten und macht sich jetzt in den Knochen breit. Manche Augenblicke werden bleiben, sie sind für immer. Die muss ich nicht aufschreiben, und über Worte ließe sich problemlos lachen. Goldig, könnte man sagen. Da könnte ein Herzklopfen sein. Das Leben kann ein Konjunktiv sein, alles ist ein könnte.

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