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21. Okt. 2015

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3

Min. Lesezeit

muc21102015, spätabends oder vielmehr nachts

Der Bildschirm ist zu weiß, meine Augen sind zu müde, nebenan windet sich ein Kind im Bett, ich kann es hören. Im Wohnzimmer mag ich nicht schlafen, und ich weiß gar nicht, warum. Wie sich das Zuhause-Gefühl nur Zimmer für Zimmer erschleicht, langsam, wie ich mir die Zimmer erobere. Dieses hier noch nicht. Schreibt es sich anders, so? Nach einem solchen Abend? Wer will schon dahin. Dinge nicht stehen lassen können. Und es nicht lernen dürfen. Was war der schönste Augenblick des Tages? Es fällt mir ein, diese tägliche, mögliche Frage an die Kinder. Mir fällt eine Geschichte ein, die ich schrieb, als ich aus Irland zurückkehrte, über zwei, die an einem Felsen am Meer standen, und Bilder machten, über zwei, die vor dem Bett auf dem Boden saßen, die Rücken ans Bett gelehnt, und sich alle Mühe gaben, sich nicht zu küssen, während sich die Schultern berührten, was ich so natürlich nicht schrieb, diese Angst vor dem Kitsch; und zum Abschied fragte er sie, oder sie ihn, ich erinnere mich nicht mehr, was der schönste Moment dieser Reise war, und was der schlimmste. Eine Frage wie früher, die Gefühle, ebenfalls wie früher, und vielleicht zu viele davon. Ich erinnere mich an die Busfahrt. Die Frage nach schönen Momenten. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich aus Irland kam, eine von zwei. Ich kam mit einer Nebenhöhlenentzündung zurück, im Flugzeug explodierten gefühlt die Ohren, und der andere wartete am Flughafen und holte mir später Nasenspray und machte mir Tee, während ich den Felsen in Irland vermisste. Eifersucht war uns fremd bis. Augenblicke des Tages: Diese schüchterne Frage im Flur. Wenn ich will, und wann ich das will, weiß ich selbst noch nicht, und sollen wir dann was trinken gehen. Ich weiß ja auch nicht, wann ich das will, nächste Woche oder nächstes Jahr, und ich verkneife mir die Offensichtlichkeit, warum immer wieder vor Augen führen. Die Frage erübrigte sich, käme nächstes Jahr denn tatsächlich in Frager. Dinge verkneifen, eine neue Stärke, die als Schwäche ausgelegt wird, ständig. Zwischen den Bildern. Zwischen den Bildern die Köpfe, manchmal stoßen wir zusammen, dann fällt mir erst ein: Ach ja. Und weiter geht es. Zwischen den Bildern übrigens auch Worte und Zeilen und alles, was man in Büchern und Filmen zu sagen versucht, im Stillen festgehalten. Die Reihe von J. und mir: Da sind doch alle Gefühle der Welt, sage ich, und dann denke ich, und sage es nicht, da ist keine Zeit und kein Raum, eigentlich ist in diesen Bildern die ganze Welt. Nichts, was nicht gesagt, gesprochen, gehasst, gewünscht, geliebt, gewollt, geächtet worden ist. Die Bilder halten die Welt fest, ohne Antworten geben zu müssen. Also bitte. Manchmal möchte ich erfassen: Was das ist. Manchmal sage ich es laut: Ja, das geht. Und jedes Gefühl ist da. Ich Angsthase, ich ewiger Feigling. Oder bin ich einfach nur klug, und werde ich mir eines Tages danken. Köpfe über den ersten Buchstaben gebeugt. Irgendwie ein denkwürdiger Moment. Ich gehe ihn vorsichtig an, weil ich nicht projizieren will, ich lasse ihn ziehen. Was ich noch weiß: Wie ich neben meinem Vater saß, mein erstes Wort las (Ma-Scha, vier Buchstaben im Russischen), wie sich die anderen dann irgendwie selbst ergaben, mein Vater rief in die Küche, sie kann lesen, ich kann’s, ich kann’s, ich kann’s. Bereits am nächsten Tag war es eine Sucht: Ich bin krank und sitze mit Großmutter im Wartezimmer der Polyklinik, an den Wänden Zeichnungen aus Märchen, Rotkäppchen und der böse Wolf, ich aber beuge mich über ein Buch (Puschkins Kindergedichte) und will jedes Wort erkämpfen. Die Worte aber kämpfen nicht, sie rennen mir entgegen. Das Kind kann schon lesen, wie alt ist sie denn, fragt eine Frau die Großmutter, und es ist das erste Mal, dass das Lob, nach dem ich mich immer so sehne, eine Last ist: Das Lesen ist nur meins. Da soll niemand eine Meinung zu haben. Die ersten vier Buchstaben, die erste und größte Erinnerung an meinen Vater, an diese ehrwürdige Gestalt. Er möchte so gerne nach Island mit mir, wie ein ganz kleines Kind möchte er. Ich verschicke ein Video.

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