23. Okt. 2015
.
3
Min. Lesezeit
Herbst in der Wachau I
Wo fange ich denn an, als hätten die Dinge einen Anfang. Oder ein Ende. Enden vorzustellen, die Schlimmen, ein Hobby. Heute wurde ich nach Hobbys gefragt. Schüler, die Steckbriefe von mir erstellen. Wie Soldaten, aber sie scheinen zufrieden damit. Und Lehrer, so stolz. Und jeder so höflich, schwarwenzelnd. Hör auf, möchte ich sagen, ich bin doch nur ich. Das „nur“ ließen die Meisten wohl weg. Gestern, im Flieger, der Flieger viel zu klein, erst am Flughafen fällt mir ein, ich hab doch Angst, dann vergeht der Gedanke, und die Angst, sie ist eigentlich lang nicht mehr da. Vermisse ich sie, als einen Teil von mir, vielleicht. So nach dem Motto, bin ich noch ich. Wie komisch es ist, alleine zu verreisen, und wie komisch es ist, dass es komisch ist, alleine zu verreisen. Und wie sehr dieser Satz doch klingt nach etwas, was ich nicht sein möchte, nach einer dieser jungen Autorinnen. Alles schreit nach Unabhängigkeit. Bin ich noch ich. Sobald ich beginne zu schreiben, sprudeln die Ideen, Ehrlichkeit ist dieser Tage das Thema. Fünf Minuten Ehrlichkeit am Tag, ein Jahr lang, ein Buch. Oder diese anderen ehrlichen Texte. Und die Wahrheit, oder das, was sie heute noch ist, das, was morgen zerbrochen sein wird. Das Schreiben ist wie der Körper: Jeder Buchstabe will noch mehr, zieht Verlangen nach sich, ein Sehnen nach Abhängigkeit, nach der guten. Der endlosen, die nichts in Frage stellt. Im Flieger ziehe ich die Seiten von S. aus dem Briefumschlag, vorsichtig. Dabei sind es nur ausgedruckte Seiten, schreib hinein, mach, sagte sie, zerreiße, ich will dich in ehrlich. Ich aber stecke den Tisch in die Tasche, das hier ist ein Geschenk. Ich lese vorsichtig, die Worte sind wie Wiesenblumen, die einem ein Junge schenkt, die Blume nimmt man vorsichtig in die Hand, weil man sie zuhause trocknen will, die Erinnerung an den Jungen bewahren. Wenn ich lese, möchte ich Menschen schreiben. Jeden einzelnen von ihnen. Bei manchen Sätzen wünschte ich mir, S. hätte sie mir geschenkt. Im Schweigen mähen sich die Worte von selbst, und wieder und wieder. Ich schreibe ihr, obwohl sie doch in Tirana verschwinden soll, in die Menschen. Die Antwort besteht aus zwei Worten. Sich erinnern, vorsichtige Vorleseversuche. Ich saß in der Ecke und auf dem Boden, das Zimmer so groß, und Leonard Cohen, und die Vorsichtigkeit bei jeder Zeile. Öffne dich nicht, öffne dich doch, jetzt sofort, gib dich nicht hin und nicht ab. Später waren da scharfe Worte, durchgestrichene Sätze, schmerzhaftes Lachen, der Wunsch, Seiten zu zerreißen, der Wunsch, weh zu tun, ich wusste nicht, wem, später war da ein Buch. Die Wucht des Vertrauens, bis es zur Arbeit wurde, professionell und gut und nützlich. Wenn etwas nützlich ist, ist es dann ein Gefühl. Ich begann mich nach dem vorsichtigen Vorlesen zu sehnen. Auch das hier, für wen schreibe ich das. Wen benutze ich hier. Schreibe ich immer noch, was sich nicht sagen lässt, oder sage ich nicht, was ich besser nicht schreiben sollte. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu schreiben, und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu lesen. Da ist es ja, das vorsichtige Gefühl. Muss ich grinsen? Ich muss grinsen, so oft in letzter Zeit. O. sagt, du bist so putzig, wenn du betrunken bist. Seiten sammeln sich im Computer und in meinem Notizbuch, sie füllen sich schneller, als ich tippen kann und verschwinden darin. Auf dem Weg das, was M. und ich das Fake-Gefühl nennen: Was, wenn die mich entlarven? Eine Fabrik, die im Dunkeln leuchtend, wie ein Kunstwerk wirkt, ein riesengroßes. Die Sehnsucht ist etwas, was ich in Worte nicht fassen wollen würde. Das „würde“ gibt die Möglichkeit zu entfliehen. Wenn ich nicht entfliehen will, stürze ich hinein, nicht, wie jemand, der gerettet werden muss, sondern in einem adlerigen Sturzflug. Ich genieße den Wind, den ich durchstreife. Beim Einschlafen diese vielen Gefühle, und dazwischen die Frage, was echt ist, was nicht. Wieviel spielen sich Menschen vor, wieviel können wir einander vorspielen, die Bettdecke ist übrigens kariert. Aber so kariert, dass es erträglich ist. Spielen wir nicht immer miteinander, spiele ich nicht auch mit mir selbst, jetzt gerade. Ich will tippen, bis die Augen zufallen, einschlafen über Buchstaben, über eigenen.