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27. Apr. 2020

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Corona-Blog Tag 44 / Dienstag

Neue Begriffe, die umher schwirren, aber vielleicht sind sie ja gar nicht mehr so neu. Wie schnell sie sich einnisten, es bequem machen, wie so Coole, die neu in die Klasse kommen, aber ein paar Tage später weiß niemand mehr, dass sie die Neuen sind, weil alle sich um sie scharen. Zu denen gehörte ich nie. Massentests, Reproduktionszahl, solche Worte. Bei anderen Begriffen und Sätzen tue ich mich schwerer, stolpere über sie, weigere mich, mich an ihre Existenz zu gewöhnen. Neuer Alltag: Das Neue soll kein Alltag sein. Ich wehre mich gegen den Begriff, obwohl es so ist: Es ist alles alltäglich geworden. Die Kinder, die am Küchentisch anstatt in der Schule lernen. Die Videokonferenzen, die ich versuche, klug über die Woche zu verteilen, aber es gibt kein Klug. Jeden Tag eine bringt den Tag durcheinander, zieht zu viel Aufmerksamkeit voran gehender Stunden. Alle auf einen Tag legen, schaffe ich nicht. Die Tatsache, dass es nicht viele Gründe gibt, aus dem Haus zu gehen. So ist es, Tag für Tag, aber ich weigere mich, das Alltag zu nennen. Wenn das alles vorbei ist, auch so eine Wortansammlung ohne Sinn. Die Kinder sagen das, manchmal die Nachbarn, manchmal die Menschen, die ich am Telefon spreche. Ich stolpere, aber sage nichts, wie ein Kind, das nicht weinen will, obwohl es sich gestoßen hat. Das alles vorbei: Wann soll das sein, und wie? Was heißt vorbei? Was heißt das, sie meinen doch nicht etwas das Virus. Das Virus bringt nämlich eine Menge anderer Probleme mit. Wenn ein Impfstoff gefunden ist, dann geht es immer noch um seine Produktion, um eine Verteilung, von der man leider nicht davon ausgehen kann, dass sie in irgendeiner Form gerecht sein wird. Wenn der Impfstoff verteilt ist, dann sind da immer noch all die Folgeschäden, Menschen ohne Job, aber möglicherweise mit Hass, verunsicherte, ihren sozialen Zusammenhängen über Monate entrissene Kinder, Bildungs- und Versorgungsgräben, die aufgerissen worden sind. Kultureinrichtungen, die keine Kultur mehr schaffen durften, Kultureinrichtungen ohne Finanzierung. Eine zusammen gebrochene Wirtschaft, erschütterte Demokratien, Erschöpfung im Individuellen und Großen, die Liste ließe sich fortschreiben; ich lasse es sein. Wenn das alles vorbei ist, dieser kindliche Satz, den Erwachsene so daher sagen, und ich schweige, ich weiß gar nicht, warum. Möglicherweise ist das der Erschöpfung zum Opfer gefallen. Auf der positiven Seite habe ich gestern einen Buchladen betreten. Den Buchhändler*innen wäre ich am Liebsten um den Hals gefallen, ich bin mir nicht sicher, ob es ihnen mit mir genauso ging. Es ist nicht, dass ich keine Bücher bestellt hätte, in den vergangenen Wochen, es geht um das Betreten an sich. Betreten, begrüßen, bestaunen, ein Buch in den Händen halten. Jemanden ansprechen, lächeln, obwohl das Lächeln hinter der Maske vermutlich niemand sieht. Irgendwo außerhalb der eigenen Wände sein, der ewig selben Draußen-Plätze. Ein Stück Leben leben.

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