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12. Apr. 2020

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Corona-Blog Tag 29 / Montag

Wir drehen uns in Kreisen, wir Menschen, immer schon. Ich weiß nicht, warum, vielleicht hat es etwas Beruhigendes immer an derselben Stelle anzukommen, vielleicht, weil der Mensch Altbekanntes sucht. Oder manche verharren einfach an derselben Stelle, während andere immer wieder dort ankommen, erstaunt feststellen: Der stand doch eben schon da. Manche Kreise sind groß, andere kleiner, gerade las ich eine Nachricht des BR, ein Schwabinger Arzt halte Corona für nicht gefährlicher als Influenza, wo haben sie den wieder ausgegraben. Dachte, in diesen Kreis müssen wir nicht wieder hinein. Gerade las ich von Jüd*innen, die zu hören bekommen, sie seien an Corona schuld, diese alte elendige Keule, die kriegt man niemals ausradiert. Wer alles Schuld hat an der Krankheit, es ließe sich eine lange Liste erstellen, es stünden Minderheiten aufgelistet, diejenigen, die sich in Gruppen packen und an den Rand stellen lassen, damit man besser mit dem Finger auf sie zeigen kann. sehr alte Kreise. Meine Gedanken drehen sich auch im Kreis. Kann zum Beispiel nicht aufhören an all die Kinder und Jugendlichen zu denken, die seit fünf Wochen nun möglicherweise Gewalt erleben, die kein Mittagessen bekommen, auch kein Abendessen, die Angst haben müssen, wenn sich die Kinderzimmertür öffnet, und diejenigen, die kein Kinderzimmer haben, sie haben das Wort „Privatsphäre“ noch nie gehört. Ich kann nicht aufhören an all die Kinder und Jugendlichen zu denken, für die Schule und Hort nicht nur die Orte sind, an denen man Noten bekommt, gute und schlechte, an denen man Fussball und Uno spielt oder sich mit Freund*innen streitet, sondern Momente von Schutz sind, von Unversehrtheit. Alle reden von „Lockerungen“, ich habe es nicht eilig mit diesen. Ich habe Angst vor einer Voreiligkeit, ich habe Angst vor dem Erwachen danach. Ich habe Angst vor einem überforderten Gesundheitssystem, was wir unseren Ärzt*innen und Pfleger*innen antun könnten, all jenen, die jemanden im Krankenhaus wissen könnten, aber diesen Menschen nicht die Hand halten könnten, sie nicht begleiten dürften. Es gibt für mögliche Lockerungen der Maßnahmen diverse Szenarien, von „stufenweise“ ist die Rede. Zeitversetzter Schulunterricht zum Beispiel, nur die Abschlussklassen, die in die Schulen dürfen. Über die Lehrer*innen, die zur Risikogruppe gehören, spricht man erstaunlich wenig, oder ich lese zu wenig davon. Ich wünsche mir, dass die Schulen für all jene Kinder und Jugendlichen öffnen, für die der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Missbrauchs an Kindern eine Hilfewebsite errichtet hat, die einen Exit-Knopf beinhaltet: Für den Fall, dass jemand plötzlich das Zimmer betritt, während das Kind sich Hilfe zu holen versucht, klickt man schnell darauf, und die Seite verschwindet. Das muss man sich ausmalen, – oder man kann es nicht -, was für Ängste dahinter stecken, was sich in einem Kind türmen muss, wenn es das Wissen um diesen Knopf braucht, diese Absicherung gegen noch mehr Wut, Gewalt, die Einsamkeit, die Scham hinterher. Ich wünsche mir, dass die Schulen für all jene Jugendlichen öffnen, die keinen Computer zuhause hatten, um in den vergangenen Wochen lernen zu können, deren Eltern ihnen nicht alle Aufgaben ausgedruckt und nach farbigen Mappen sortiert haben, all jene Kinder, die dringend ein nahrhaftes Mittagessen aus der Schulkantine bräuchten. Ich wünsche mir, dass all jene Eltern entlastet werden, die krank, alleinerziehend, unter der Armutsgrenze versucht haben, Eltern zu sein. Ich weiß nicht, wie man das bewerkstelligt, wie man Stigmatisierungen verkleinert – entgehen wird man ihnen wohl nicht können. Ich wünsche mir eine Kommission aus Pädagog*innen, Bildungspolitiker*innen, Ethiker*innen, Sozialarbeiter*innen, die sich über diese Fragen Gedanken macht, die Maßnahmen findet, die mehr schafft als eine Website, die möglicherweise aus Angst kaum eine*r nutzt. Wir kreisen alle, auch um die Frage, was kommenden Mittwoch passiert. Wenn sich die sinkenden Infektionszahlen halten, wenn Merkel sich mit den Ministerpräsident*innen bespricht. Wenn sie eine Entscheidung treffen; ich kreise auch, ich bekomme diesen Gedanken nicht los an all diese Kinder, die dann vielleicht weiterhin zuhause bleiben müssen. Die ihn brauchen, diesen verdammten Exit-Knopf.

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