12. Nov. 2015
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Berlin-Leipzig, 12/11/2015, jemand bat mich, über Heimat zu schreiben, oder darüber, ...
...wie man diese verlässt. also schrieb ich. Das Wasser in dem blauen Wasserspender aus Emaille, dessen Farbe mit jedem Sommer immer mehr abblätterte, bis man es als gesprenkelt bezeichnen konnte, blau-rostbraun gesprenkelt, war eiskalt, Brunnenwasser, das in Eimern getragen wurde, nimm nicht zu viel, rief Großmutter, das war auf der Datscha. Die Birkenrinde zog ich mit einer für mich untypischen Geduld von den dünnen, in ihrer Fragilität traurigen Bäumen ab, eine Manie. Die schwarzen Vogelbeeren am Zaun verdrehten den Mund, eine zwiespältige Erfahrung zum Thema Genuss. Den Kopf über die auf Zeitungspapier ausgebreiteten, frisch gesammelten Pfifferlinge, Täublinge und Butterpilze beugen und den Geruch aufsaugen, und die Klebrigkeit der Pilze auf den Fingern. Dann war ich weg. Was für meine Eltern mit wiederholten Fragen, langen Überlegungsprozessen, monatelangen Vorbereitungen und täglich beiseite geschobenen Zweifeln einher gegangen war, fühlte sich für mich, ein elfjähriges Kind, so an: Dann stand ich im Nachtzug am Fenster, der Zug verließ langsam und lärmend den Petersburger Bahnhof, Verwandtschaft winkte weinend am Gleis, dann war ich in Deutschland. Deutschland trug viele klischeegetränkte Versprechen in sich, Bananen, Barbies und Jeans. Deutschland war bunt, und an den Farben konnte ich mich lange nicht sattsehen: Die neongelben Fahrradhelme, die roten und gelben Heftumschläge in der Schule, das blaue Wasser im Freibad, und das Orangegelb der zu meiner Verzückung einzeln in Plastik verpackten Käse-Sandwichscheiben. Das Wunder Deutschlands war bunt, und es sollte dauern, bis ich das Schwarz-Weiß der Birken vermisste. Es war, wenn sie mir mein Gefühl nahmen, „du und deine russische Emotionalität“, es war, wenn sie das ihnen Fremde an mir entlarvten, es war, wenn es plötzlich sie gab und mich, und ich diese Grenze selbst niemals zog, dass die Sehnsucht in den Bauch kroch und sich von dort ausbreitete in die Zehen und Fingerspitzen: Heimweh. Es war, und es ist. Geräusche und Gerüche, Geschmack auf der Zunge vermissen, den, der Geborgenheit verspricht. Eine Melancholie, ein Sehnen etwas, was nie mehr sein wird, nicht auf diese unschuldige Weise. Oder doch? Ich will das versuchen, zurück in die Heimat reisen. Und Vogelbeeren mitbringen.