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29. Okt. 2020

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Kultur trotz Corona: Moment des Zusammenzuckens

Ich sitze im Zug. Draußen sind Herbstblätter und der Himmel trist, und ich weiß, es ist das letzte Mal, das ich in den nächsten Wochen Zug fahre. Die Herbstblätter verlieren langsam die Farben, werden braun. Ich fahre gerne Zug, heute, vor mir steht eine Thermoskanne auf dem Tisch. In Fulda stand der Zug eine ganze Weile, weil es auf „vor uns liegender Strecke“ einen Suizidfall gab. Das ist der Moment, in dem alle kurz den Atem anhalten, oder zumindest wünsche ich mir, dass das alle anderen auch tun: Während wir alle hier etwas wollen, irgendwohin, irgendeinen Ort erreichen, während wir warten, aufs Ankommen, auf ein Wiedersehen, während wir lesen, arbeiten, aus dem Fenster starren, zu laut telefonieren, hat jemand nichts mehr gewollt. Hat jemand das Leben nicht mehr ertragen. Dann bricht alles kurz in die Gedanken hinein, worüber wir lieber nicht nachdenken wollen, das Unglück anderer Menschen. Ich weiß nicht, warum ich mir das so sehr wünsche, dass diese Erinnerung, dieser kurze Moment des Zusammenzuckens, eine kollektive Erfahrung ist. Ich werde in den nächsten Wochen nicht mehr Zug fahren, alle Veranstaltungen sind abgesagt worden, natürlich. Am Mittwoch hat die Bundeskanzlerin die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten getroffen, hat sich besprochen. Sie haben sich besprochen, aber im Bundestag sprach man erst am nächsten Tag über die am Mittwoch verkündeten Beschlüsse, und die Bundeskanzlerin sah müde aus, so grunderschöpft. Am Mittwoch war ich am Residenztheater in München gewesen, an dem in einer Woche die Premiere meines Stücks hätte stattfinden sollen, und ich habe Bleistifte bekommen, auf denen ein Zitat aus dem Stück steht. Drei Bleistifte, einen für mich, zwei für die Kinder, und ein paar Stunden später verkündete die Bundeskanzlerin, dass die Theater im November geschlossen werden. Es wäre irgendwie symbolisch gewesen, hätte ich den Bleistift benutzt, um die Theatervorstellungen und alle anderen Veranstaltungen aus dem Kalender zu streichen. Mein Kalender ist ein digitaler, alles im Handy gespeichert. Gestern den ganzen Tag telefoniert, Absagen, Verschiebungen, Verzweiflung in den Stimmen. Jemand sagt, dass das Aufstehen schwer falle, viele sprechen davon, wie unfair das ist, weil sich doch gerade die Kulturstätten so viel Mühe gemacht hätten, Hygienekonzepte zu entwickeln, und die Worte „das Land der Dichter und Denker“ fallen, natürlich in diesem ironischen, wütenden Ton. Im März war so eine Energie im Raum, unter den Menschen, in den Stimmen, irgendwie anders weiter machen, kreativ denken, umdenken, neue Konzepte, all das. Jetzt ist Erschöpfung, es ist immer schwerer aufzustehen, wenn man bereits eine Verletzung hat. Draußen vor dem Fenster gibt sich das Wetter Mühe, passt sich der Stimmung an. Die Zahlen steigen weiterhin, ich bin wieder dazu übergegangen, die Tage mit ihnen zu beginnen. Den inzwischen fünfstelligen Zahlen. Der Zug, in dem ich sitze, ist beinahe leer, obwohl es Freitagnachmittag ist. Ich bin Anfang der Woche bereits dieselbe Strecke gefahren, da war er noch recht voll. Ich habe den Tee beinahe ausgetrunken, während ich diese Worte schreibe.

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