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5. Apr. 2020

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Corona-Blog Tag 22 / Montag

Die Sonne scheint. Sie scheint schon seit Tagen, Wochen, hinterlässt geometrische Flecken auf dem Wohnzimmerboden, die Ruhe versprechen, Sommer, ich weiß nicht, ob die Sonne die Dinge besser macht. Oder ob sie uns vor Augen führt, was Ambivalenz bedeutet: Die Sonne scheint, aber eine Pandemie lässt Menschen sterben, in Existenzkrisen abrutschen, sich Sorgen um Geliebte machen, macht uns gefangen. Die Sonne scheint, ich setze mich an den Schreibtisch. Die Kinder haben Ferien, sie haben ein Schminkstudio im Kinderzimmer eröffnet. Ich bin die einzige Besucherin, und ich versuche, in der Zeit, in der eines meiner Augen blau, das andere grün geschminkt wird, nicht an die zu beantwortenden Mails zu denken. Ich lasse mich schminken, sie haben seit Wochen niemanden außer den Eltern und einander gesehen. Also lasse ich zu, dass meine Lippen lila scheinen. Heute Abend die erste Online-Live-Lesung, ich schiebe das Ausprobieren der Technik hinaus. Als würde ich mich damit einlassen auf eine Welt, in der Kultur in geschlossenen Räumen statt findet, in der ich Lesende und Hörende nicht sehe, nur sie mich. In der wir Künstler*innen performen, ohne diesen so bedeutungsvollen Augenkontakt, ohne zu spüren, was Kunst mit den Menschen macht. Gestern etwas über Corona-Tagebücher, -Blogs und -Journale in der Zeitung gelesen, denen Pathos vorgeworfen wurde, sie seien der Versuch, einem sinnentleerten Zeitraum einen eigenen, schreibenden Sinn verleihen. Ich wage es nicht, meine Texte auf Pathos hin zu überprüfen. Ich wage derzeit nicht, Emotionen einzuordnen, zu bewerten. Sie zerfließen alle, haben ihre Grenzen verloren (ist das ein pathetischer Satz?). Ich lese andere Corona-Journale, es hilft mir, Stimmen zu hören, Stimmen, die aufgeschrieben worden sind, Notizen einer Zeit, die alles umschmeißt, das wir kennen. Vielleicht hilft es nicht, vielleicht lässt es mich nur auf die Weite der Welt schließen. Heute viel über antisemitische Corona-Hetze gelesen und auch über andere Corona-Verschwörungstheorien, schrecke zusammen, wie alte Vorstellungen ins Heute reichen, wie sehr sich Menschen Sündenböcke wünschen, wie sie nach jemandem greifen möchten, dessen Hals in diesem Griff erstickt. Während ich all das lese, fragte eines der Kinder, das auf der Couch ein Buch über Zirkus las: „Können wir bald wieder in den Zirkus?“. Ich habe gelernt, Antworten unendlich ins Vage zu verzerren. In meine Liste der neuen Begriffe füge ich „Notstand“ hinzu. Ich befürchte, dieser Text war voller pathetischer Sätze.

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