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  • Lena Gorelik

Wachau, noch ein Tag

Eine Schriftstellerin, eine ältere und kluge und unendlich wundervolle, wie sie da sitzt, in ihrem Alter, in ihrem bestickten Rock, und wie wir über das einzige Thema sprechen, worüber man dieser Tage so sprechen kann, das, was die Welt neu strukturiert, für immer, packt sich beim Frühstück ein Sandwich in eine Sprüngli-Papier-Tüte, für den Fall, dass sie später Hunger kriegt. Das darf man sich erlauben, wenn man eine wundervolle, ältere Schriftstellerin ist; bei anderen schämte ich mich, aber das sind meine vergangenheitsgetränkte Grenzen.


Heute ist Wear-Red-Day, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Ich habe nichts Rotes dabei, ich besitze auch nichts Rotes. Und wer fühlt sich denn besser damit, die Flüchtlinge sicherlich nicht.


Heute morgen hat einer von „Flüchtlingsangriff“ gesprochen. Ein Ungar. Es ist so offensichtlich, wer hier angegriffen wird, dass ich das Aufschreiben verweigere. Frühstücken mag ich übrigens plötzlich auch nicht. Die Rhetorik wird schärfer, jeden Tag stellen wir das alle fest, und dann passiert nichts. Peter Stamm, lese ich im Tagesanzeiger, sagte in einer Rede in Zürich, Schriftsteller tun grundsätzlich nichts oder nicht viel – und manche, um sich besser zu fühlen, äußerten sich öffentlich politisch mit Gutmenschen-Platitüden. Auskennen würden wir uns nur mit Worten. Berufsbedingt stoßen mir also Begriffe wie „Flüchtlingsangriff“ auf, und der Text von Peter Stamm, in seiner Lethargie, steht dahinter noch an.


Live hingegen: the daring, intellectual. A. L. Kennedy, die aussieht, wie man sich eine intellektuelle, britische Schriftstellerin vorstellt, britisch, obwohl sie sagt, sie setze so ungern ein Adjektiv vor Autorin, sie habe Heimaten, nicht eine Heimat: Eine Frau wie ein Mann gekleidet, in einem Tweed-Anzug, leicht zu große, braune Budapester, rote Schnürsenkel, kurz-kurze Haare. Sie beginnt mit den Worten:„Everybody in this room could do this better?“, und es ist süß, auch wenn man den schlichten Trick durchschaut. Sie spricht das Gegenteil von Peter Stamm, sie sagt: „We somehow must be guardians of imagination, of wider thought, of culture“ und „ we are living in times where doing our jobs is not enough“ und davon, dass wir, Autoren, „are used to our role as someone occupying a moral high ground, supposedly seeing clearly and then speaking wisely on behalf ouf our societies, our species.“


Heute morgen habe ich gedacht, nie möchte ich aufwachen und mehr Schreiber sein, denn Mensch. Niemals möchte ich Sprechrollen verwechseln, im Privaten bin ich immer noch ich.


Wir leben in einer Zeit, in der wir beim Kaffeetrinken auf youtube Hinrichtungen anschauen können. Und dann klappen wir den Laptop zu, oder wechseln auf die Amazon-Seite.


A. L. Kennedy schließt mit: „As artists and writers we have experienced the fact that art is stronger than propaganda, that love is stronger and more sustainable than help, that self-expression can mean more than self-indulgence. We have values.“ Ist es so? Sind Schreiber, Künstler die besseren Menschen? Lieben oder hassen die meisten nicht hauptsächlich sich selbst, was im Übrigen auf dasselbe hinaus läuft, sie sind mit sich selbst beschäftigt. Den higher moral ground haben aber übrigens diejenigen, die sich selbst hassen. Und dann schließt sie also: „What do you do next, make next, write next, create next is up to you – it has to be up to you. But without you, we are all past saving. Let us, together, imagine the future – if we don’t, it will happen without us and may kill us along the way.“


Müssen sich Autoren entscheiden, ob sie ein homo politicus oder ein homo poeticus sind? Das wird, in dieser Wortwahl ,diskutiert, auf einem Panel, und auf dem nächsten, und auf einem sitze ich, und dann denke ich an Marina Zwetajewa, die sich das Leben genommen hat, um den Qualen, denen an der Welt, am Krieg, an sich selbst und der Liebe ein Ende zu setzen. „Alle Dichter sind Juden“, hat sie geschrieben.


Wir müssen Gesichter schaffen als Dichter, wir müssen Fragen stellen, wir müssen es mit Empathie tun. Nein, wir müssen nicht, und nicht als Dichter, aber ich muss, als Mensch. Und wie absurd der Gedanke plötzlich scheint, einfach in Urlaub fahren zu wollen, wo man doch an die slowenische Grenze muss und in die Ukraine und an so viele andere Orte. Sich nicht um sich selbst drehen, ich bin doch kein Hund. Außer ein russischer Wolfshund.


Es herrscht ein solch erschreckender, aggressiver Nationalismus in osteuropäischen Ländern, die eigentliche Bedrohung des Abendlandes, die, wenn man den Gedanken zu Ende führt, die Welt in einem Jahr, in zwei Jahren, in drei so anders aussehen wird lassen, dass wir es heute gar nicht schreiben können.


Die Engländer übersetzen nur vier Prozent ihrer Literatur, auch der Engländer dreht sich um sich selbst. Sagt übrigens die wundervolle Engländerin in Rot, die hinzufügen muss, dass sie immer rot trägt, nicht nur heute, und nicht den Flüchtlingen zuliebe, dieser Charme.


Warum sind nur so viele Menschen mit der Frage beschäftigt, ob und welche Handys Flüchtlinge haben, haben sie alle nichts weiter zu tun? Die Zeit nehme ich mir gar nicht, darüber nachdenken zu wollen. Wie einfach, wie tierisch sind doch die Menschen gestrickt. Freunde über Landesgrenzen  und alte Vorhänge hinweg: Le Pen und Putin, Putin und Orbán, und in Budapest schlagen sie auf der Straße Roma zusammen, und das liest man dann so, nebenbei. Und ich denke darüber nach, in Urlaub zu fahren, schon wieder.


Fehler, die die Welt erklären: Schüler – jeder Autor bei den Europäischen Literaturtagen macht am ersten Tag eine Schullesung, Literatur allumfassend und so; außer übrigen N., dem ist es zum Aufstehen zu früh – hatten eine Präsentation gemacht. Zum Thema Flüchtlinge. Auf einem Plakat hatten sie gesammelt, was ein Flüchtling alles zurück lässt, und auf einem anderen, was ihn erwartet. Schlechte Erinnerungen, schlechte Bedingungen, Familie stand auf dem ersten und dann noch Muttersprache. Und unter jedes Wort hatten sie liebevoll gemalt: Sprechblasen und Münder unter die Muttersprache zum Beispiel. Als sie die Plakate aber präsentieren, an die Tafel gestellt, und die Lehrer fotografieren, und bevor sie, auf Kommando „Vielen Dank für die Aufmerksamkeit“ so sagen sie: „Sie lassen dann schlechte Erinnerungen zurück und ihre Muttersprache, weil sie sie dann ja nicht in der Öffentlichkeit sprechen dürfen.“ Willkommen im öffentlichen Gedankengut.


Den Podien zuhören und merken, dass auch die Großen über sich selbst und ihre Befindlichkeiten und Themen sprechen, und einfach nur das tun, und nicht mehr versuchen. Jemand bezeichnet uns Chamisso-Autoren als eine Familie, und später sitze ich oben und trinke den hervorragenden Marillen-Saft. Werden wir zu dem gemacht, was wir sind, oder tun wir es selbst? Was machen wir mit unseren Talenten, und manche machen nichts, und das schmerzt.


Abends ist Wein, viel zu viel davon, und wie er fließt, man tanzt, also ich tanze, unfreiwillig, aber mit Freude, jemand sagt, es gäbe eine Bar namens Chérie, irgendwo in diesem Dorf, irgendwo bei der Tankstelle, und man möchte und möchte nicht, eigentlich auf gar keinen Fall, dahin.


Bei Interviews Sätze, über die ich selbst staune, manchmal wünschte ich, ich schriebe so. Beim Schreiben eile ich immer zu sehr, weil da zu viele Gedanken und zu viele Ideen sind, und dann nehme ich mir nicht die Zeit, um die Sätze auszumalen. Zurückgehen, Zeit haben, nur schreiben, tagelang.

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