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  • Lena Gorelik

Corona-Blog Tag 39 / Donnerstag

Aktualisiert: 30. Juni 2021

Menschenleer: Was nach einer Bedrohung klingt. Früher – früher, sage ich schon, als wäre ich Jahrzehnte älter, als handle es sich nicht um ein paar Wochen, die ich hier meine, als könnten wir nicht immer noch in Tagen zählen -, hat man danach gesucht, nach menschenleer. Hat von menschenleeren Stränden geträumt, von Tagen, an denen man niemandem begegnet. Keinen Lärm, keine Stimmen, die Träume haben sich auch gewandelt, nicht nur das Leben. In der U-Bahn angerempelt zu werden: Ein Paradies. Ein überfüllter Zug, das Drängeln auf der Rolltreppe auf dem Weg zum Bahnhof. Ein Freibad, in dem das Stimmengewirr ein durchgehender Ton ist, ich sehne mich nach dem „Oh Mann“ im Satz: „Oh Mann, ich kann hier gar nicht in Ruhe lesen“.


Gestern das erste Online-Schreibseminar gegeben. Videobilder von Menschen, die ich zum großen Teil nicht kenne, ich kann in ihre Wohnzimmer blicken, sehe Bücherregale, eine Flasche Bier, eine Teetasse, sehe Fensterrahmen und einen Tisch, der im Hintergrund steht. Sehe Gesichter, höre Stimmen, spüre die Menschen nicht, spüre keinen gemeinsamen Raum. Einmal gibt es eine Rückkoppelung, ein anderes Mal funktioniert das Mikro einer Teilnehmerin nicht. Wir geben uns alle außerordentlich Mühe, wir haben Regeln aufgestellt. Wer nicht spricht, schaltet das Mikro aus, und bei den Schreibübungen biete ich an, auch die Kamera auszuschalten. Drei lassen sie an, ich weiß nicht, ob sie das absichtlich tun, oder es einfach vergessen, so sehe ich ihnen beim Schreiben zu. Ich vermisse mein allerliebstes Geräusch: Wenn Stille entsteht, wenn Stifte Buchstaben ins Papier kratzen. Vermisse die erstaunten Blicke, wenn ich sage, die Schreibzeit sei jetzt um. Wenn Sie vielleicht alle zurück kommen, sage ich, ich meine zurück zu Ihrem eigenen Computer. Wir haben keinen gemeinsamen Ort, kein Zu. Ich vermisse die Tische im Literaturhaus, die Pause, in der alle aufstehen, sich durch den Raum bewegen, das Lächeln, wenn man sich im Flur auf dem Weg zur Toilette begegnet. Wir geben uns alle außerordentlich Mühe, uns an die Regeln zu halten, am sonderbarsten ist vielleicht der Abschied, wie alle hilflos winken. Wie kleine Kinder am Fenster, ich falle anschließend wie erschlagen ins Bett. Ich habe mehr als je in einem Seminar zuvor gesprochen, weil es so wenig gemeinsame Kommunikation geben kann, ich höre mir selbst zu, wie ich doziere, was ich nicht will, was ich nicht kann. Als mich am nächsten Morgen eine E-Mail erreicht, ob es von mir aus bei der geplanten Lesung am 1. Oktober bliebe, spreche das „Ja“, das ich in den Computer tippe, laut mit, spreche es laut aus. Ja.


Ich erwische mich, obwohl mich alle Lockerungen im Hinblick auf eine zweite Welle sorgen, obwohl ich Laschets Alleingänge und den achtlosen Stimmenwahlfang kaum ertrage, immer wieder beim Träumen. Eine Hotellobby, ein Frühstück, sich anstellen für ein personalisiertes Rührei. Ja. Ja. Ja.

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