top of page
  • Lena Gorelik

Corona-Blog Tag 12 / Freitag

Aktualisiert: 30. Juni 2021

Alles hämmert, alles hämmert in meinem Kopf. Gedanken, Nachrichten, in gereizte Sätze verfrachtete Ängste. Überforderung, die sich über einem Computerprogramm, das nicht starten will, entlädt. Fast 4900 Tote in Spanien, heute morgen habe ich herum gebrüllt, ohne eigentlichen Grund, vielleicht, weil ich die Stille vermisse. Vielleicht, weil ich Menschen vermisse, vielleicht, weil der Unterschied zwischen beiden verschwimmt. Boris Johnson wurde positiv auf Corona getestet, ich kann die hämischen Kommentare vor mir sehen, ich reiße die Fenster auf, als käme durch die Fenster die alte, die gute Welt.


Abends koche ich alleine, obwohl es pädagogisch und auch sonst aus sicherlich noch mehr Gründen sinnvoll ist, die Kinder die Karotten schnippeln und die Kartoffeln schälen zu lassen, ich koche alleine, das ist meine Zeit. Ich schnipple alleine Karotten, Ärzt*innen müssen entscheiden, wen sie weiter beamten, der deutsche Ethikrat äußerte sich auch schon dazu. Es macht keinen Sinn, Karotten zu schneiden, in New York sind sie auch schon krankenhaustechnisch überfordert. Es macht ein wenig Sinn, sie später zu essen, weil wir Freunden eingeladen haben, die wir über einen Handbildschirm sehen, wir haben das Handy auf einen Bücherstapel und auf die Bücher eine Zwieback-Packung gestellt. Sie sehen so klein aus im Handy, und wir wahrscheinlich auch. Ich fühle mich dieser Tage auch klein, obwohl ich groß sein muss, erwachsen, irgendwie größer als sonst.


Fast 4900 Tote in Spanien, und Adidas zahlt die Miete nicht mehr, und irgendjemand denkt, das alles sei irgendwie bald vorbei. Ich bin zu müde, um darüber zu lachen, ich habe gestern mit jemandem gesprochen, der in der gemeinsamen Wohnung seinem Freund aus dem Weg geht, weil der Asthma hat, sie essen nicht mal mehr zusammen. Was uns alle vereint in diesen Tagen: Das Aufwachen und Denken, dass alles vielleicht ein Alptraum war. Ich denke, dass uns das vereint, was weiß ich schon von anderen Menschen.


Was weiß ich schon von jenen, die in viel kleineren Wohnung mit viel mehr Menschen zusammen gepfercht sitzen, die vielleicht gar keine Wohnung haben. Mir ist es zum Fahrradfahren zu kalt, also schicke ich die Kinder alleine raus vor die Tür, und denen ist es zum Leben zu kalt. Was weiß ich schon von jenen, die vielleicht gerade geschlagen werden, wir wissen alle, die Konflikte nehmen dieser Tage zu – ich habe heute morgen die Kinder angebrüllt -, ich habe gelesen, auch die Gewaltbereitschaft. Was weiß ich von jenen, die im Dunkeln aufwachen, weil in ihnen alles dunkel ist, was weiß ich schon von jenen mit dieser Volkskrankheit Depression, was weiß ich, ob Dunkelheit schwärzer werden kann mit Corona. Was weiß ich über Einsamkeit, über die Verzweiflung, bis die Hand zum Hörer greift, um Fremde bei der Telefonseelsorge anzurufen. Was weiß ich schon von sterbenden Menschen, was weiß ich schon, ob ich das hier überhaupt schreiben darf und soll, ob Schreiben nicht an Sinn verloren hat in den letzten Tagen.


Gestern wurde der Hund meiner Eltern eingeschläfert, Fremde haben ihn zum Tierarzt gebracht. Nette Leute, die Zettel mit Hilfsangeboten aufgehängt hatten, wie wir, meine Mutter rief sie an. Ich hänge solche Zettel aus, und meine Eltern, beide krank, beide alt, beide Risikogruppe, beide ohne mich, und plötzlich so weit weg, schreiben sich Nummern von solchen Zetteln ab. Rufen an, bitten um das Schrecklichste, den sehr alten, sehr kranken Hund zum Tierarzt zu bringen. Sie küssen ihn zuhause zum Abschied, ich stelle es mir vor, obwohl ich es mir nicht vorstellen möchte, obwohl ich es muss, sie können nicht raus, das C-Wort. Die Einsamkeit in der Wohnung meiner Eltern, die karierte Decke des Hundes, ich höre auf, mir etwas vorzustellen. Die Einsamkeit hämmert vermutlich auch.

2 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page