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  • Lena Gorelik

Corona-Blog Tag 11 / Donnerstag

Aktualisiert: 30. Juni 2021

Vorgestern, als wir mit dem Rad unterwegs waren, frische Luft schnappen, es war viel zu kalt, aber wen kümmert schon Kälte in diesen Zeiten, brüllte ihre Mutter ihr Kind auf der Straße an: Ich will dich heute weder sehen noch hören! Eines der Kinder erschrak sich, wusste aber aus den Kindernachrichten schon Bescheid, dass jetzt Konflikte in den Familien drohen, jeder Raum zu eng, die Decken neigen sich gen Köpfe. Die kleinen Alltäglichkeiten bergen Reizpotential, und irgendwo müssen sich Sorgen ja entladen.


Meine Tante in Russland, wo die Zahl der Corona-Erkrankungen angeblich verhältnismäßig gering ist, aber wer will das schon glauben, bis auf die vielen Millionen Russen, erzählt, die Lage, die in der Welt, die sei ja gar nicht so schlimm. Alles nur Panik, die Panik habe Merkel erfunden. Meine Mutter legt auf mitten in diesem Gespräch.


Ich laufe durch die Wohnung, wirr, ebenso wirr sind meine Gedanken. Ich denke den nächsten, aber nicht weiter als den. Ich denke nicht in Tagen, nicht in Wochen, das ist Überlebensinstinkt. Ich bestelle Bücher für andere Menschen, für Kinder, für Freunde, ich schaue nicht aufs Geld. Ich lese nicht, ich bin zu unruhig, mache mit mir selbst zehn Seiten aus, ich zwinge mich neuerdings zum Lesen. Zehn Seiten am Tag, als stünde Lesen auf der To-Do-Liste. Nächte sind die einfachsten Stunden.


Niemand fragt nach der Zukunft, alle fragen nach dem Tag. Meine Freundin schreibt, sie möge nicht mehr aufwachen, weil dann der Alptraum ist. Jemand anders postet von Panik-Attacken, und viele sprechen einfach von schlechten Tagen. Am Telefon erzählt mir jemand, dass sein Freund in Algerien stecke und nicht hinaus komme, und auf Twitter schlägt jemand vor, die Eltern mögen doch alle um 19.30 Uhr auf den Balkon gehen und laut schreien, man könne das ja als Solidarität gegenüber jemandem benennen. Ich lache endlich, laut, manchmal lache ich den Kindern zuliebe über die Sprechblasen, die sie mir begeistert in Comics zeigen. Ich höre nicht mehr zu.


Auf gesellschaftlicher Ebene spricht man endlich darüber, was systemrelevante Berufe sind, wer unterbezahlt wird, und zwar gehörig, auch über den Anteil von Frauen in diesen Segmenten. Als hätte Corona was Gutes, hat es aber nicht. Es fällt mir schwer, Zusammenhänge zu bilden. Zu den guten Dingen gehört die erstaunlich gute Laune der Kinder, die zwei Stunden zwischen sechs und acht Uhr früh, in denen ich in Ruhe am Schreibtisch sitze, der Nudelauflauf von gestern. Zu den erschreckenden Dingen gehört auch das noch permanentere und penetrantere Vorhandensein technischer Geräte im Alltag.


Zwischendrin, während ich so durch unsere nicht so große Wohnung irre, fällt mir ein, dass ich einen Roman schreiben wollte. Irgendwann, vor nicht allzu langer Zeit.

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