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  • Lena Gorelik

Island – 10. Mai 2015 – heutegestern

Heute bin ich aufgestanden, und der Satz ging mir nicht aus dem Kopf, den ich vor zwei Tagen bereits bei Jagoda Marinic gelesen habe: “Die Haltung ‘Ich will ja gar nicht, dass du mich magst’ ist der grausamste Schrei nach Liebe.” Heute bin ich aufgestanden, und der Kopf war schwer, schwerer als gestern. Ich weiß nicht, ob das eine Verbesserung ist, immerhin schmerzen die Beine nicht mehr.


Gestern, als ich ging, konnte ich vor so viel Schnupfen nicht mehr reden, und draußen war es noch hell. Gestern lief ich am Friedhof vorbei, und jeder Baum auf diesem Friedhof war gewunden, war verwunschen, irgendwas musste da geschehen. Ich wäre gerne einmal über den Friedhof gelaufen, aber ich die Zeit. Gestern habe ich beim Abendessen von der isländischen Schriftstellerin Kristín Marja Baldursdóttir erfahren, dass die Isländer viel lesen, viel reisen und viel arbeiten. An Weihnachten fragt man sich “Welches Buch hast du geschenkt bekommen?”, und das hat beinahe die russische Selbstverständlichkeit von “Was liest du gerade?”. Die einzige russische Frage, die ich vermisse, aber das fällt mir erst jetzt, beim Schreiben, auf. Gestern habe ich keine Musik gehört.


Heute höre ich Musik, und ich fange vorsichtig an, bones you have thrown me and blood I’ve spilled. Heute schreibe ich diesen Artikel zu Ende und ganz viele Seiten, bestimmt. Ich habe einen ersten Satz und einen dazwischen im Kopf.


Gestern habe ich nicht geschrieben, aber gedacht. Gestern habe ich Raclette gegessen. Gestern brannte die Kälte nicht in die Finger hinein.


Heute ist der Himmel grau, es hat nachts geregnet, ich habe den Regen verpasst. Gestern wurde ich gefragt, welches Buch man von mir lesen soll, und ich antwortete, wie ich meist darauf antworte, es ist keine Frage, wie andere Fragen, die man nicht stellt. Außer wir. Wir stellen alle Fragen, das gehört sich so. Und nur so, im Übrigen. Gestern habe ich gehört, dass Doris Lessing mal gesagt hat, wenn jemand länger als zwanzig Minuten redet, sie beginnt, seine Krawatte zu studieren. Ist doch interessant, dass sie dabei von Männern sprach.


Heute denke ich anders, als ich gestern gedacht habe. Heute werden die Fragen anders gestellt. Gestern habe ich eine Entscheidung getroffen, eine, die ich schon häufiger traf. Gestern schrieb ich ein Gedicht, was keines war, es war auf Englisch, und ich weiß nicht, ob es einen Sinn hatte, und auch nicht, ob Herz, und durchlesen wollte ich es auch nicht noch einmal.


Gestern habe ich gedacht, wenn es draußen hell ist, halten die Tage ihr Versprechen, das war auf dem Nachhauseweg. Mein Orientierungssinn ist wirklich unter aller Sau, selbst als ich vor dem Haus stehe, erkenne ich es kaum. Darüber habe ich geschrieben, vorgestern war das, glaube ich.


Heute denke ich, wenn ich diesen Gedanken zu fassen kriege, wenn ich den fest halten kann und in die Zeilen zwängen und er zu zappeln aufhört, dann wird es ein grandioser Roman. Gestern habe ich gedacht, jeder Schritt ist eine Entscheidung, und wenn das so ist, dann setzt man sich auch nicht eines Tages hin und schaut zu beim Zerfließen. Wie die Dinge vergehen oder an Bedeutungslosigkeit verlieren, das wäre doch gelacht. Und dann grinste ich den blauen Himmel an und ging wieder hinein.


Heute ist der Himmel grau, und es ist kalt. Heute lasse ich die Terrassentür offen stehen, um mich nicht alleine zu fühlen, und wenn mir kalt ist, stelle ich mich an die Heizung im Bad. Heute denke ich außerdem, auch wenn etwas pathetisch klingt, kann es eine Wahrheit sein.

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