18. Jan. 2014
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Januar 2014. Die Geschichte einer Reise. München – Hiddensee.
Der Flug ist wie Fliegen eben ist, für mich. Zu wenig Platz, zu hoch, zu wackelig, zu lang, obwohl, wenn ich ehrlich bin, sind es heute nur 45 Minuten. Löse Logik-Trainer in der üblichen Reihenfolge, erst die 1*-Aufgaben, dann die 2*-Aufgaben, bei der zweiten verrechne ich mich, dann landen wir schon. Minutenkästchen brauche ich nicht. Interessant vielleicht noch, dass C., als ich ihr den Logik-Trainer erkläre, ein ähnlich bemüht interessiertes, aber doch angewidertes Gesicht macht wie mein Mann und auch sonst alle, die ich kenne. „Aha“, sagt sie, und gibt sich so offensichtlich Mühe, interessiert zu klingen. Wir landen also. Phase eins. In der Berliner Luft eine rauchen, graue Wolken am grauen Himmel, alles grau also, der Kaffee zu bitter, und aus dem Taxi gesehen: ein „Wafflys“ neben einem Haute Couture-Geschäft mit tortenähnlichen Braut- und Abendkleidern, ein Dönerimbiss auch direkt daneben. Ich überlege, ob ich mich hier wohl fühle, weil es Berlin ist, oder nur eine Großstadt. Meine Berlin-Geschichte: Die erste deutsche Stadt, die ich jemals sah. Mein erster deutscher Tag am Ostbahnhof Berlin. Der Geruch von Laugengebäck mit Käse überbacken. Seitdem, jedes Mal, wenn ich am Ostbahnhof bin, die körperlich spürbare Enttäuschung, weil es nicht nach Laugengebäck mit Käse riecht. Später: Schülerzeitungsseminare in Berlin. Das erste Mal Freiheit und groß sein, mit S. und J. die russische Botschaft erstürmen, Kartoffelgratin in „Zur Nolle“, was es sicher nicht mehr gibt, sich gut fühlen, nicht mehr der Schülerzeitungsnerd. Noch später N. und außerdem – sonderbarerweise – das Hilton Hotel. Was so in Erinnerung bleibt. Und ganz klar, Döner, indisches Essen, Bundeskanzleramt. Mein Hirn speichert auf eine auch für mich nicht immer nachvollziehbare Weise. (Nach dem Flug C. erzählt, wie ich mit dem Studiengang nach Berlin flog, als ich noch keine Flugangst hatte, sondern Flugfreude, und auf dem Sitz auf und ab hüpfte, um Turbulenzen für eine Kommilitonin zu machen, die unter Flugangst litt. Verspreche C., eine Entschuldigungsmail zu schreiben.) Zug nach Stralsund, Phase 3, Regionalexpress, eine Bummelfahrt in drei Stunden. Bekomme SMS: „Und, schon Nazis gesichtet?“. C. meint, in den zahlreichen Schrebergärten Pädophile zu erkennen. Wir sind doch alle voller Klischees und genießen diese. Um mal eines zu brechen: Die vielen grauen Plattenbauten lösen bei mir wie immer ein Gefühl der Geborgenheit aus, wie ich es selten erlebe. Ihr mögt die Unterschicht, die Migranten und die Arbeitslosen darin vermuten, zurecht wahrscheinlich, aber ich wuchs in einer solchen Platte auf. Die Selbstverständlichkeit dieser Größe, was für ein Kinderglück. Zwischen den Plattenbauten Spielplätze, auf einem solchen verbrachte ich die Kindheit. Wenn ich hoch schaute, über die neun Stockwerke hinüber, und die Wolken zogen gerade über das Haus hinweg, dachte ich, das lange, hohe Haus stürze gleich auf mich ein. Es machte keine Angst. Haus 18, Aufgang 2, Wohnung 282. Und die Telefonnummer 516-31-78. Werde ich nie vergessen. Einmal sage ich, als wir villenartige Häuser sehen: „Oh, hier wohnen die Reichen im Osten“ und bin wahrscheinlich zu laut dabei. Beim Umsteigen, in Stralsund, stelle ich fest, dass ich gar nicht wusste, dass man mit dem Zug nach Rügen kann, und zwei Herrschaften mit ihren Koffern lachen laut. Fahren sie nachhause oder verbringen sie ihren jährlichen Urlaub dort? Rügen, Busfahrt, Phase 4 oder 5. Ein Nichts im Nebel. Grüne Weiden, Nebelsuppe, vereinzelte Bäume in dieser Suppe, Horrorfilm. Sowieso die perfekte Filmkulisse. Ich denke: Neuer Roman. Selbst die Bagger am Straßenrand wirken einsam. C. fragt mich nach drei Jobs, die ich machen würde, wenn ich nicht schreiben könnte: 1. Codes entziffern für den BND oder Mossad, gerne auch für CIA. 2. Dienstpläne schreiben. 3. Kassiererin. Letzteres meine ich ernst, die Regeln an der Kasse, die Richtigkeit der Summe, abgearbeitete Kunden, das wäre was für mich. Im Bus lernen wir die erste Hideenseerin kennen, sehr nett. Letzte Phase: Autofähre Schaprode nach Hiddensee, auf der Fähre ein einziger Traktor, klar, weil Hiddensee autofrei ist. Wir bleiben unten beim Traktor stehen, im Nieselregen, schauen in das Nichts hinaus, weites Wasser, das sich im Nebel auflöst, außer uns nur Möwen, erst sind es zwei, die uns begleiten, dann vier, dann fünf, und plötzlich sind sie weg. Der Flügelschlag, als hätten sie ihn geübt, und ich wundere mich selbst über die Landschaftsbeschreibungen in meinem Kopf, wo ich sonst nie welche mache, noch nicht einmal, wenn ich muss. Wir schreien „Hiddensee!!!“, ganz laut. C. holt uns Kaffee, der in Reederei Hiddensee-Bechern kommen. „So eine Tasse brauche ich!“, rufe ich aus, als ich sie sehe. „Habe ich uns schon gekauft“, ist die Antwort. Die Hiddenseerin, die aussieht, als käme sie aus Berlin (graue Stulpen, zwei bunte Röcke übereinander, roter, selbst gestricker Cardigan (dawanda?)) und in Wirklichkeit aus Dresden stammt, erzählt, auf Hiddensee leben 1200 Menschen, von denen im Winter nur 500 da sind. Und die anderen? Unterrichten zum Beispiel Tauche in Ägypten. In der Schule 50 Kinder, Klasse 1 bis 10. Die einzige Enttäuschung: Dass sie Peggy heißt. Sie malt uns einen Plan von Hiddensee auf. Hiddensee: Dunkel, Gepäckbollerwagen zum Ziehen, stehen bereit. Das Hotel, das nur 600 Meter entfernt sein soll, aufgrund der Dunkelheit schwer zu finden. Finden dafür einen Edeka, decken uns ein: Wodka Parlament, Bitter Lemon, Schokolade und Chips. Und weiter wird der Wagen gezogen. Hotel Godewind, die Menschen so freundlich wie auf dem Festland fast nie, und das erste Mal seit halb sieben Uhr früh etwas richtiges zu essen (Anreisezeit: Über zehn Stunden). Nach dem Essen suchen wir die Ostsee. Wodka Lemon in einer Evian-Flasche und Zigaretten, die im Wind nur schwer anzuzünden sind. Chucks, stellt sich heraus, waren für diese Reise nicht das richtige Schuhwerk. Die Pfützen reichen mir bis zu den Knöcheln. Schlängeln uns im Dunkeln durch diese Pfützen Richtung Meeresrauschen durch, Schlingpflanzen oder wie die Dinger heißen, die Dünen, alles im Dunkeln, dann endlich Sand und das Meer: Ruhig, erstaunlich wenig Wind – der gut gepasst hätte, finde ich – Algen im Sand, außer uns niemand. Ich lasse die Chucks das Meer berühren. Rauchen, trinken, reden, schweigen, freuen, ich hebe im Dunkeln eine zerbrochene Muschel auf, will sie C. schenken, aber sie nimmt sie nicht, „die ist ja kaputt“. Versuchen, auf der anderen Seite der Insel den schönen Sandstrand (das ist die Bodden-Seite, ein neues Wort in meinem Sprachschatz seit drei Stunden) zu finden, vergeblich, verirren uns in fremden Gärten. Ich halte eine Vogelscheuche für einen Menschen, der bestimmt eine Knarre hat. Irgendwann an diesem Abend, am Strand hatte ich gesagt: „Ich glaube, ich könnte einen ganzen Roman jetzt schreiben.“ Mag kitschig klingen, ist aber ein äußerst seltenes Gefühl.