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18. Jan. 2014

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3

Min. Lesezeit

Hiddensee. Der Samstag.

Aufwachen. Im weißen Fenster (nettes Hotelzimmer übrigens) grauer Himmel und schwarze, leere Äste. Heute übrigens auch – und hatte ich noch nie – kein Gefühl von: Wo bin ich eigentlich? Ich wache auf, sehe das Fenster, weiß: Hiddensee. Könnte eigentlich weiterschlafen und bin wie immer zu unruhig, stehe auf. Diese alte Angst, ich könnte etwas verpassen. Anstrengend, das Leben mit mir selbst. Beim Frühstück: „Das ist so eine No-hidden-agenda-Maus“. Vor dem Frühstück Sartre, die ersten drei Seiten. Beim Frühstück auch: Selbst gemachte Sanddornmarmelade. Schmeckt mir nicht, wusste ich eigentlich seit meiner Mecklenburg-Vorpommern-Reise, war mir aber nicht mehr sicher. Der Sanddorn-Grog gestern Abend war hingegen gut. Den trinke ich heute noch mal. Nach dem Frühstück leihen wir bei Nils Löwe, wieder mal die Freundlichkeit in Person, rote Fahrräder. Und auf zur See, wobei sich herausstellt, dass das, was wir gestern für Bodden gehalten haben, die Ostsee war, und der Sand eben Sandstrand. Da hätten wir noch lange suchen können. Gerhart Hauptmann, habe ich im Vorfeld gelesen, hat auf Hiddensee Produktivitätsspaziergänge gemacht, nachdem er morgens gebadet hat. Baden kann ich nicht, fünf Grad. Ich mache einen Produkitvitätsspaziergang. Produktivität taucht leider nicht auf. Schöner Strand, ohne Frage, weiter Blick, schöne Steine, schöne Muscheln, schöne Algen, auf denen sich meine grünen Chucks übrigens sehr hübsch machen. Ich kicke Steine ins Wasser, weil ich zum Aufheben und Werfen zu faul bin. Ideen kommen keine auf. Als Menschen kommen, – wieso Menschen? außer uns? – drehen wir um und gehen in die entgegen gesetzte Richtung. Man grüßt sich nicht. C., wie sie sich in den Sand legt, um etwas zu fotografieren. Ich gehe zurück, setze mich daneben, berichte von meiner Unproduktivität. Bin halt nicht Gerhart Hauptmann. Darauf rauche ich eine und bitte um eine imaginäre Thermoskanne. C. reicht mir eine, darin Grog mit Früchten und Beeren, köstlich, wenn auch nicht echt. Gut, dass wir an eine Thermoskanne gedacht haben. Produktivität hat etwas mit Fingerbewegung zu tun, tippen, Stift in der Hand. Ich hole meinen Laptop aus dem Rucksack und tippe einen guten Absatz. Dann wird es zum Tippen zum kalt. Radeln nach Kloster, der nächste Ort, es sind insgesamt drei auf Hiddensee. Wenn ich durch Pfützen radle, die Chucks übrigens wirklich nicht das richtige Schuhwerk, eiskalte Zehen, hebe ich die Füße von den Pedalen und an, und C. hinter mir lacht jedes Mal. Filzen, stelle ich fest, ist eine sehr deutsche Angelegenheit. In anderen Ländern habe ich nie etwas Filziges gesehen. Das Hauptmann-Haus, an dem die Kultur dieser Insel kumuliert, hat im Winter, zumindest im Januar, geschlossen. Vor dem Hauptmann-Haus (es war seine Datscha) haben die einen Pavillon hingestellt, für dessen Hässlichkeit man den Verantwortlichen erwürgen möchte. Im Schaufenster außer Gerhart Hauptmann: Jenny Erpenbeck, Helmut Böttger, Robert Schindel, Florian Illies. Was mir am Haus gefällt:
- Treppe und Terrasse aus roten Ziegelsteinen, da will ich frühstücken, da will ich schreiben. Hauptmann hat wohl immer auf der Treppe seine Stücke diktiert, und so einen Sekretär, dem ich alles diktieren kann, würde ich im Übrigen auch nehmen. - Die morschen Spalten zwischen den Ziegelsteinen, in denen Moos wächst, und über die ich einen Naturaufsatz schreiben möchte. - Die Vogelbeeren, der Farn im Garten. Farn seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, zumindest gefühlt. - Das herrschaftliche Esszimmer mit den hässlichen blumen-gemusterten Sesseln, das ich durchs Fenster erblicke. - Die Reetdächer und den Deich dahinter, die von der Terrasse aus zu sehen sind (hier sitzen und schreiben, jetzt wiederhole ich mich.) Prima, so eine Schreibdatscha. Ist heute so etwas noch üblich? Und wenn nicht, warum nicht? Außer der finanziellen Fragen natürlich. Im Literaturpavillon, in das ich ebenfalls durchs Fenster blicke, verkaufen die auch Hauptmanns Lieblingswein (er war ein großer Weintrinker und hat sich als Erstes einen Weinkeller bauen lassen), und in den nächsten Stunden soll mich die Frage beschäftigen, warum Menschen nur deshalb einen Wein kaufen sollten, weil ein toter Schriftsteller ihn gerne trank? Die Menschheit ist ein sonderbares Volk. Eine freundliche, graue Katze wohnt heute im Hauptmann-Haus. Im Wieseneck heiße Schokolade mit Amaretto trinken (vier Mal) und nichts essen und an der Geschichte für Merian schreiben. Die Zehen wieder spüren. 6000 Zeichen, von denen ich mindestens 3000 wieder weg schmeißen werde. Nun ja. C. kommt zurück und ist mit ihren Fotos unzufrieden. Schicke sie wieder raus. „Soll ich mitkommen?“ „Nee. Mir hilft gar nicht, wenn du dabei bist.“ Dann eben schreiben. Auf dem Rückweg am Bodden entlang radeln, der Wind in den Rücken und von der Seite in die Mütze, ins Ohr, in den Kopf. Kein Fahrradlicht. Pfützen. Und immer dieser Wind, nach dessen Romantik ich mich gestern unverständlicherweise sehnte. Wir versuchen, einander zu toppen “Der Wind zieht durch meine abstehenden Ohren hindurch.” “Meine Zähne schmerzen, wenn ich den Mund aufmache.” Zum Essen ein Sanddorngrog, nach dem Essen ein Fischergeist. Der Fischergeist hat über 50 Prozent Alkohol und wird deshalb – so die Erklärung der wieder einmal unwahrscheinlich netten Kellnerin – angezündet. C. hüpft nach dem ersten Schluck herum und dichtet dann: Der Fischergeist, der Fischergeist,
der ist mir kräutermäßig viel zu dreist.
Die Kehle brennt, die Zunge zischt,
mich hat der Fischergeist erwischt.

Hiddensee. Der Samstag.
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