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  • Lena Gorelik

Vaihingen, erster Tag.

Vaihingen, in Worte zu fassen, ist ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Aber ein Versuch wird es.


Schreibe die Zeilen im Marktcafé, wo ich gerade von zwei gesprächigen Schwaben älteren Semesters gelernt habe: „Vaihingen an der Enz, jeder kennt‘s.“


Außerdem das Kompliment gehört: „Sie sprechen aber schön Deutsch“. Darauf bezogen, dass ich kein Schwäbisch spreche. Mich gefreut. Erzählt, meine Familie stamme aus Mitteldeutschland, Hessen. Darf ich mal in Vaihingen jemand anders sein? Gundelinde.


Vaihingen also, erster Tag. Ankunft, im Nebel, kurz vor acht. Kurz Panik, wo kriegen wir jetzt noch Alkohol her, dann Erleichterung, Verwunderung, Freude und die Frage, warum ich in Bayern lebe: Der REWE in Vaihingen hat bis 24 Uhr auf. REWE: Wodka (Russian Standard nicht im Angebot, deshalb: Parlament), Bitter Lemon, Schokoladeneier, Hanuta, Chips, Käsegebäck und ein Weihnachtsgesteck für 3,99, um das Hotelzimmer (Hotel Post garni, das erste Haus am Platz) aufzufrischen. Den Preistag lassen wir dran, ist schöner so.


Vom Fenster des Hotelzimmers aus kann man aufs Dach zum Rauchen klettern. Auf den Dächern von Vaihingen also („Anarchistinnen“, kommentiert mein Mann per SMS).


Das Hotel übrigens, das mit der Bar wirbt, ist ab 18 Uhr nicht mehr besetzt. Rufen den Besitzer an, dass wir nun da sind, und starren voller Bewunderung die zehn Minuten, die wir auf ihn warten, das blau-gelbe Neon-Hotel-Schild an. Innen: Dunkelheit und in der Dunkelheit die geschlossene Bar.


Im Zimmer: graue weiße Tüllvorhänge und schwere, bräunliche mit Dreieckmuster. Beide seit den Achtzigern nicht gewaschen. Aber eine Packung Lebkuchen vom Lidl auf dem Tisch. Perfekt.


„Zur Krone“ lernen wir, ist das neue, moderne Restaurant, das uns der Hotelbesitzer empfiehlt. Der Hotelbesitzer hat übrigens ein Schlossmodell von den Türen, 30 cm hoch, das er auf den Rezeptionstresen stellt, und an dem er mir das System mit den Karten, die man vor das Schloss hält, damit man die Tür öffnen kann, erklärt. In „Zur Krone“ kommen wir nicht rein. Weihnachtsfeiern oder Gesichtskontrolle. Die Tische sind geschlechter-getrennt.


Also ein Lokal, dessen Namen ich vergessen habe, aber nennen wir es mal „Zur Eiche“. „Zur deutschen Eiche“. Schnitzel, die mehr Fett als Schnitzel sind, und im Nachtisch (Heiße Himbeeren mit Vanilleeis) ein goldenes Schirmchen. Auch hier Weihnachtsfeier, auch hier ein Frauentisch. Wir raten: Volkshochschule, Jazztanz-Gruppe, Beamte, Stadtbibliothek (aber dafür sind es zu viele), Fabrikle. Auf Nachfrage: Es ist die Yoga-Gruppe, außerdem saß ein Mann dabei, den wir übersehen haben.


Die schwarze Kellnerin ist aus München der Liebe wegen nach Vaihingen gezogen.


Beim Rauchen draußen interviewt C. pubertierende Jugendliche, die sich auf dem Marktplatz treffen, wo sonst, während ich drei Bücher auftreibe: Jana Hensel, Charles Bukowski, Pablo Neruda. Wo, bleibt mein Geheimnis. Aber ich erzähle C. drei gute Geschichten dazu, von der sie eine fast glaubt. Dann muss ich leider lachen.


Don‘t you die on me. Don‘t you dare.


Auf dem Rückweg: Achtziger Musik. Kommt aus: Schatzis Events Café. Auf dem Plakat steht „Weihnachtsdisco mit Glühwein und Chili con carne“. (Später tippe ich das, mein Handy verbessert mich, „Chili con Charme“, und die Antwort lautet zurecht: „con Chame wäre noch besser gewesen.“ Schatzis Events Café ist das beste Filmset der Welt, wird C. später sagen, aber ich glaube das nicht. Würde man das im Film machen, würden die Kritiker nörgeln: That‘s too much. Discokugeln, Nikolausmützen als Stuhlhussen, Schatzi mit getürmten, schwarz-gefärbten Haaren, im engen, karierten Kostüm, große Oberweite, schwarze Lederstiefel mit 15-cm-Absätzen. Einer, wir nennen ihn Schröder, tanzt Disco-Fox, Tanzkurs F. Am Tisch die Freundinnen, in Glitzer-Pullovern, Weihnachtsdisco eben. Manchmal tanzt auch der DJ. Am Tresen drei Männer, freundlich und verloren, irgendwie. Aber das „verloren“ ist schon zu viel Interpretation. Einer von ihnen, wie sich herausstellt, Schatzis Freund/Mann. Legt ihr die Hand zwischen die Beine, „Schatz ist meine“ (die Geste spricht, nicht er). Ihre unscheinbare, schlecht blondierte Freundin, mit der sie das Events Café betreibt, sagt: „Die ist Schatzi, nicht ich.“ Da möchte man sie in den Arm nehmen, und nein, das ist nicht großstädtische Arroganz. Einer der besten Abende seit langem, aber ein Plakat – ich hätte es rahmen lassen und aufgehängt – zur Weihnachtsdisco darf ich nicht mitnehmen. Dabei hat C. auch getanzt, und der Glühwein ist teurer als in München. Oder teurer für uns, die wir aus München sind. Ab morgen, sagt C., kommen wir aus Heilbronn.


Im Hotel: Wolfgang Herrndorfs „Arbeit und Struktur“ vorlesen, bis C. einschläft. Und dann noch weiter lesen. Vaihingen.


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